Was ist Traumabindung und pDIS?
Wenn Außenstehende von Loverboy-Fällen oder Menschenhandel hören, taucht fast immer die gleiche Frage auf: „Warum geht sie nicht einfach?“ oder „Wieso verteidigt sie ihn sogar?“. Für die Betroffenen selbst ist das Verbleiben beim Täter jedoch keine freie Entscheidung, sondern eine Folge komplexer psychischer Dynamiken. Bei der Loverboy-Methode spielt eine Form von emotionaler Abhängigkeit eine zentrale Rolle, die unter anderem als Traumabindung beschrieben wird. Andere Wörter, unter die dieses Phänomen gefasst wird, sind zum Beispiel ‘trauma-coerced attatchment’ oder ‘Traumainduzierte Zwangsbeziehung’. Momentan gibt es dazu noch keine Begriffsklarheit, dennoch beschäftigen sich Wissenschaftler*innen immer mehr mit diesem Phänomen.
Unter all diesen Begriffen versteht man die durch den Täter zwanghaft herbeigeführte emotionale Bindung eines Opfers an den Täter, die trotz anhaltender Gewalt und Ausbeutung bestehen bleibt. Für Außenstehende wirkt es oft unverständlich, warum Betroffene beim Täter bleiben oder ihn sogar verteidigen. Aus traumapsychologischer Sicht lässt sich dieses Verhalten jedoch als Überlebensstrategie erklären.
Wie entsteht eine Traumabindung?
Traumabindung entwickelt sich in Beziehungen, in denen ein starkes Machtgefälle herrscht. Täter wechseln gezielt zwischen Gewalt und scheinbarer Zuneigung – ein Muster, das häufig als „Zuckerbrot und Peitsche“ beschrieben wird. Dieses ambivalente Verhalten erzeugt Verwirrung, Schuldgefühle und die Hoffnung, dass sich die Beziehung, die von der Seite der Betroffenen durchaus real ist, bessern könnte.
Für Betroffene, die isoliert sind und keine anderen sozialen Bezüge mehr haben, wird der Täter zur wichtigsten Bezugsperson. Er gibt ihnen das Gefühl, gebraucht oder verstanden zu werden – während er gleichzeitig Kontrolle und Gewalt ausübt. Um das Überleben in dieser Situation zu sichern, übernehmen Betroffene zunehmend die Sichtweise des Täters. Der eigene Selbstwert geht verloren, Schuld und Verantwortung für die Gewalt werden auf sich selbst bezogen. So entsteht eine paradoxe Situation: Der Täter ist gleichzeitig Bedrohung und Halt. Für Betroffene wird es psychisch fast unmöglich, sich innerlich oder äußerlich von ihm zu lösen.
Dissoziation – was ist das eigentlich?
Die Betroffene ist also abhängig vom Verbleib beim Täter, der ihr aber gleichzeitig Gewalt antut. Um das über einen langen Zeitraum aushalten zu können, nutzt die Psyche einen Mechanismus: Dissoziation. Dissoziation bezeichnet einen psychologischen Zustand, in dem verschiedene Aspekte des Bewusstseins – wie Wahrnehmung, Gedächtnis, Identität, Gedanken, Gefühle, Sinneseindrücke oder auch das Körperbewusstsein – voneinander getrennt werden. In leichter Form ist das ein alltägliches Phänomen, etwa wenn wir so stark konzentriert sind, dass wir alles um uns herum ausblenden. Dissoziation ist jedoch auch eine Schutzreaktion der Psyche auf überwältigende Erfahrungen und kann sehr tiefgreifende Folgen haben. Ein Beispiel ist die Depersonalisation, das Gefühl, neben sich zu stehen oder die Umwelt wie durch einen Schleier zu erleben, als wäre alles nicht ganz real. Auch dissoziative Amnesien, also Erinnerungslücken für traumatische Ereignisse, gehören dazu. In besonders schweren Fällen kommt es zu einer dissoziativen Identitätsstörung (DIS), früher als multiple Persönlichkeitsstörung bezeichnet. Hier spalten sich ganze Persönlichkeitsanteile ab, die in unterschiedlichen Situationen die Kontrolle übernehmen können.
pDIS – eine neue Diagnose
Um das ambivalente und gewaltvolle Handeln des Täters aushalten zu können, befinden sich Betroffene der Loverboy-Methode häufig und über einen langen Zeitraum in dissoziativen Zuständen. Das führt zu einem komplizierten Störungsbild, welches inzwischen auch in der ICD-11 beschrieben: Dort gibt es die Diagnose der partiellen dissoziativen Identitätsstörung (pDIS). Sie hebt bei Traumabindung die Dissoziation als zentralen Bestandteil hervor.
Bei pDIS zeigt sich dies darin, dass Betroffene zwischen zwei Realitäten leben: einerseits der tatsächlichen, in der sie Gewalt erfahren, andererseits der vom Täter geschaffenen Welt, in der er als wichtigste Bezugsperson erscheint. Dieses „Gefängnis im Kopf“ erklärt, warum Betroffene den Täter verteidigen, ihre Situation nicht als Ausbeutung begreifen und große Schwierigkeiten haben, sich zu lösen.
Warum ist das wichtig zu verstehen?
Traumabindung und pDIS machen deutlich, dass Loyalität oder Zuneigung zum Täter nicht mit „freiwilligen Entscheidungen“ verwechselt werden dürfen. Sie sind das Ergebnis von Überlebensstrategien in einer Situation massiver, unausweichlicher Gewalt. Für die Begleitung Betroffener bedeutet das: Schuldzuweisungen sind fehl am Platz. Stattdessen braucht es Verständnis, traumasensible Unterstützung und langfristige therapeutische Begleitung.
*Dieser Artikel ist aus einer Bachelorarbeit entstanden, aber keine wissenschaftliche Quelle! Wenn du die Inhalte zitieren oder weiterverwenden möchtest, lese sie bitte im Kontext der Arbeit und verwende die richtigen Quellen 😉
Quellen
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