Was ist eine komplexe posttraumatische Belastungsstörung?
Betroffene von Menschenhandel, insbesondere in Form sexueller Ausbeutung, sind über längere Zeit massiver Gewalt, Zwang und Kontrollmechanismen ausgesetzt. Diese dauerhafte Bedrohung hinterlässt tiefe seelische Spuren. Bei einem großen Teil der Betroffenen wird eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) und häufig eine komplexe posttraumatische Belastungsstörung (kPTBS) diagnostiziert.
Mehr als eine PTBS?
Viele Menschen kennen den Begriff ‘posttraumatische Belastungsstörung’ (PTBS) also langanhaltende Folge von Traumata. Diese Diagnose bildet allerdings ein breites Spektrum an Auslösern wie Symptomen ab. Doch gerade gravierenderer Symptomatik, die als Folge von wiederholter, langanhaltender und unausweichlicher Gewalt – also Situationen, in denen Betroffene nicht entkommen können, auftritt, wird diese Diagnose nicht gerecht. Daher gibt es seit kurzem im ICD 11 (internationalen Klassifikation von Krankheiten) die Diagnose ‘komplexe posttraumatische Belastungsstörung’ (kPTBS) um diese zu beschreiben: Menschen, die über längere Zeiträume extremer Gewalt ausgesetzt sind, entwickeln häufig ein spezifisches Störungsbild, das über die „klassische“ PTBS hinausgeht.
Eine kPTBS entsteht typischerweise nach Traumatisierungen, die sich wiederholen und denen die Betroffenen nicht entkommen können. Dazu zählen zum Beispiel:
andauernde häusliche Gewalt
sexueller oder physischer Missbrauch in der Kindheit
Folter oder Sklaverei
organisierte Ausbeutung und Zwangsprostitution
Das Besondere ist: Die traumatischen Erfahrungen sind nicht einmalig, sondern ziehen sich über Monate oder Jahre. Für Betroffene gibt es kein Entkommen, die Gewalt ist Teil ihres Alltags.
Symptomatik
Die kPTBS umfasst zunächst die drei Kernsymptome der PTBS:
Wiedererleben traumatischer Ereignisse (Flashbacks, Albträume, intrusive Erinnerungen),
Vermeidung von Erinnerungen, Gedanken oder Orten, die an das Trauma erinnern,
eine dauerhaft erhöhte Wachsamkeit gegenüber Gefahren (Hyperarousal).
Hinzu kommen drei zusätzliche, besonders einschneidende Symptomgruppen:
Probleme mit der Affektregulation – Betroffene haben Schwierigkeiten, ihre Gefühle zu steuern. Wut, Angst oder Verzweiflung können plötzlich und überwältigend auftreten.
Schwierigkeiten in Beziehungen – das Vertrauen in andere Menschen ist tief erschüttert. Viele ziehen sich zurück oder sind in sozialen Kontakten stark verunsichert.
Negatives Selbstbild – Gefühle von Schuld, Scham und Minderwertigkeit prägen das Denken. Betroffene übernehmen die Verantwortung für die Gewalt, die ihnen angetan wurde.
Diese drei Zusatzsymptome machen die kPTBS zu einer besonders schweren und umfassenden Belastung, die das Leben in nahezu allen Bereichen beeinträchtigen kann.
Folgen für Betroffene
Menschen mit kPTBS geraten leicht in eine Spirale von Schuld und Selbstabwertung. Wie Peichl beschreibt, übernehmen insbesondere Frauen, die langanhaltende Partnerschaftsgewalt erleben, oft die Verantwortung für das, was ihnen geschieht. Sie verteidigen Täter, um ein Gefühl von Kontrolle zurückzugewinnen. Doch diese Dynamik verstärkt das negative Selbstbild nur noch mehr.
Das erschwert es Betroffenen erheblich, sich Hilfe zu suchen. Viele haben das Gefühl, dass ihnen ohnehin niemand glauben würde – besonders dann, wenn Täter gezielt darauf hinwirken, ihre Gewalt zu verschleiern. Hinzu kommt, dass Betroffene ihre Symptome oft aktiv verbergen, um nicht weiter bedroht zu werden. So bleiben kPTBS-Folgen im Alltag häufig unsichtbar.
kPTBS ist eine Folge massiver Gewalt. Das Wissen um diese Störung hilft, das Verhalten Betroffener besser einzuordnen, etwa warum Betroffene Täter manchmal verteidigen, den Kontakt zu Hilfesystemen meiden und Schuld- und Schamgefühle so präsent sind.
*Dieser Artikel ist aus einer Bachelorarbeit entstanden, aber keine wissenschaftliche Quelle! Wenn du die Inhalte zitieren oder weiterverwenden möchtest, lese sie bitte im Kontext der Arbeit und verwende die richtigen Quellen 😉
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