Menschenhandel statt liebe

Wie hängen Traumata und emotionale Abhängigkeit zusammen?

Um die Dynamik der Loverboy-Methode zu verstehen, reicht es nicht aus, allein die Täterstrategien zu betrachten. Entscheidend ist auch die psychische Situation der Betroffenen: Warum bleiben sie beim Täter, obwohl sie Leid erfahren? Die Psychotraumatologie bietet hier eine wichtige Grundlage. Sie erklärt, was Trauma bedeutet und welche Überlebensstrategien die Psyche in Situationen extremer, anhaltender Gewalt entwickelt. 

Was bedeutet Trauma? 

Das Wort „Trauma“ stammt aus dem Griechischen und bedeutet „Wunde“. In der Psyochologie bezeichnet es eine seelische Verletzung, die entsteht, wenn das seelische System durch ein extrem belastendes oder bedrohliches Ereignis überfordert wird. Laut der WHO (ICD-11, 2022) handelt es sich dabei um „ein extrem bedrohliches oder entsetzliches Ereignis oder eine Reihe von Ereignissen“, die das Erleben so stark erschüttern, dass keine ausreichende Verarbeitung möglich ist. Mit einem Trauma konfrontiert, schaltet unser Körper also in Überlebensmodus und versucht alles, um aus der bedrohlichen Lage zu entkommen, um das eigene Überleben zu sichern. 

Die Relational-Cultural-Theory 

Wichtig ist: Bedroht wird nicht nur der Körper. Auch das Gefühl von Sicherheit in Beziehungen kann für das Überleben entscheidend sein. Das erklärt die Relational-Cultural-Theory (RCT). Sie stammt aus der feministischen Psychologie und geht davon aus, dass Menschen nicht primär nach Unabhängigkeit, sondern nach „verbundenem Wachstum“ streben. Zwischenmenschliche Beziehungen sind für unser psychisches Wohlbefinden zentral. Fehlt Verbindung zu anderen, empfinden Menschen ebenfalls Schmerz. Werden alle vorhandenen Beziehungen zu anderen Menschen bedroht, wird auch das eigene Überleben bedroht und unser Körper reagiert, wie er auch auf beispielsweise einen Unfall reagieren würde, und schaltet auf Überlebensmodus um. 

Gerade wenn Gewalt andauert, wird Beziehung zu anderen überlebenswichtig. Für Betroffene, die isoliert sind, bleibt oft nur die Bindung zum Täter als letzte Verbindung zur Außenwelt. Aus dieser Perspektive wirkt das Festhalten an der Beziehung – selbst wenn sie missbräuchlich ist – wie eine rationale Überlebensstrategie: Wird diese Verbindung gekappt, droht für die Betroffene der Verlust jeder sozialen Sicherheit. Damit erklärt sich, warum Betroffene nicht einfach „gehen“ – das Festhalten an der Beziehung ist für sie die rational erscheinende Überlebensoption. 

Reaktionen auf Bedrohung: Überlebensstrategien 

Wird Überleben akut bedroht, reagieren Menschen häufig instinktiv mit bekannten Mustern. Die Bekanntesten sind fight (kämpfen), flight (fliehen) oder freeze (erstarren). 

Doch bei andauernder Gewalt, wie in Loverboy-Dynamiken, sind diese Strategien nicht wirksam: 

  • Kampf: Aussichtslos, da durch das bestehende Machtgefälle die Täter überlegen sind. 

  • Flucht: erscheint unmöglich, weil Betroffene emotional, sozial oder finanziell abhängig sind. 

  • Freeze: vollständiges Erstarren kann über längere Zeit nicht aufrechterhalten werden, weil die Gewalt andauert. 

Eine vierte Strategie tritt in den Vordergrund: please and appease (beruhigen und beschwichtigen, auch bekannt als ‘fawn’). So handeln Betroffene von Gewalt besonders oft, wenn sie mit Tätern in Beziehung stehen und Täter wechselndes Verhalten zwischen Zuneigung und Gewalt zeigen.  Betroffene versuchen, Täter*innen zu besänftigen und das zu geben, was gefordert wird. Diese Anpassung ist keine freiwillige Entscheidung, sondern eine Überlebensreaktion des Nervensystems. Vor allem diese Überlebensstrategie wird mit langfristigen, schweren Traumafolgestörungen in Verbindung gebracht.

Wenn Menschen über einen längeren Zeitraum immer wieder traumatischen Erlebnissen ausgesetzt sind, wie das bei der Loverboy-Methode durch die Gewalt des Täters der Fall ist, entwickeln Betroffene meist eine komplexe posttraumatische Belastungsstörung und häufig dissoziative Störungen. Diese beeinträchtigen die Gesundheit und das Leben Betroffener enorm und über einen langen Zeitraum, auch weit über die Ausbeutungssituation hinaus.  

Loverboy-Methode und emotionale Abhängigkeit 

Die Psychotraumatologie macht deutlich, dass das „Bleiben“ in einer missbräuchlichen Beziehung nicht auf fehlender Einsicht oder Willenskraft beruht, sondern auf tiefgreifenden Überlebensmechanismen. Wenn Betroffene isoliert sind und durch den Täter ambivalentes Verhalten erfahren, wird die Beziehung zum Täter paradoxerweise zur letzten Quelle von Sicherheit – selbst wenn sie Gewalt beinhaltet. Emotionale Abhängigkeit entsteht so nicht trotz, sondern gerade wegen der Traumatisierung. Dieses Verständnis ist zentral, um die Dynamik der Loverboy-Methode zu begreifen und den Blick von Schuldzuweisungen hin zu den Überlebensstrategien der Betroffenen zu verschieben. 

*Dieser Artikel ist aus einer Bachelorarbeit entstanden, aber keine wissenschaftliche Quelle! Wenn du die Inhalte zitieren oder weiterverwenden möchtest, lese sie bitte im Kontext der Arbeit und verwende die richtigen Quellen 😉

Quellen

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